Falstaff Magazin Österreich Nr. 6/2022

wein / WEINREISE

wein / WEINREISE SANCERRE & POUILLY Eine kräftezehrende Angelegenheit ist das Arbeiten in den steinigen Weinbergen der Region. Das Familienweingut Vigneron au Petit Chambre von Vincent Gaudry zählt zu den Vorreitern des biodynamischen Weinbaus. Hat man den »Tour des Fiefs« erklommen, letztes Überbleibsel der Stadtbefestigung von Sancerre, bietet sich dem Auge ein kompletter Rundumblick. Direkt zu Füßen befindet sich Sancerre selbst mit seinem geschlossenen Ortsbild ohne Industrie und Hochhäuser, erbaut auf einem 316 Meter hohen Hügel. Im Westen erstrecken sich Weinberge die steinigen Hänge hoch bis zur Waldkuppe. Im Osten schließlich fällt der Blick auf ein weites Flusstal, in dem breit und ruhig die Loire gerade auf der Hälfte ihrer Reise zwischen Zentralmassiv und Atlantik angekommen ist. Mit anderen Worten: Dies ist das ländliche Frankreich schlechthin, entsprungen dem Bilderbuch der Idealtypen. Nicht nur die kleinen Läden und Cafés wie das »Café Librairie de Sancerre« mit ein paar Tischen mitten im Buchladen Fotos: Gianni Villa, Shutterstock, beigestellt Karte: Stefanie Hilgarth / carolineseidler.com 62 falstaff aug 2022

Vier Fünftel der Rebfläche des Sancerrois sind mit Sauvignon Blanc bestockt. leben dieses Urfranzösische, im ganzen Sancerrois schwingt immer etwas leicht Nostalgisches mit. Da passt es gut, dass am Ufer der Loire einst die legendäre N7 entlanglief, die Route du Soleil, besungen von Charles Trenet und Zeuge von Staus, Vorfreude und vollgepackten Urlaubswagen auf dem Weg von Paris ans Mittelmeer. Mittlerweile hat eine Autobahn die alte Nationalstraße ersetzt, aber hier und da finden sich noch alte Zeitzeugen. Wie beispielsweise das »Relais Les 200 Bornes« vor den Toren von Pouilly, ein frisch aus den 50ern entsprungenes Motel mit Tankstelle, an dem sich oft Liebhaber historischer Automobile treffen. Während die Loire auf diese Weise Norden und Süden miteinander verbindet, dient sie in anderer Hinsicht bis heute als Trennlinie. Die beiden Weinbaugebiete von Pouilly-sur-Loire (AOC Pouilly-Fumé) und Sancerre (AOC Sancerre) befinden sich nämlich nicht nur an entgegengesetzten Ufern. Pouilly im Osten gehört darüber hinaus administrativ schon zum Burgund mit seiner Hauptstadt Dijon. Sancerre hingegen, nur gute zehn Kilometer entfernt, liegt in der Region Centre mit der Hauptstadt Orléans und orientiert sich deshalb seit jeher in Richtung Westen. Nicht immer allerdings waren obere und untere Loire dabei freundschaftlich miteinander verbunden. Eine viel erzählte Anekdote berichtet, dass die Behörden in Orléans die Verschiffung der Weine aus Sancerre oft so lange aufhielten, bis aus ihnen Essig geworden war. Auf diese Weise sei Orléans zur Essighauptstadt Frankreichs aufgestiegen. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Geschichte lässt sie jedoch durchscheinen, dass die Weine der Region auch in früheren Zeiten schon hochbegehrt waren. Bereits die Römer, für die der Hügel von Sancerre als Festung eine große strategische Bedeutung besaß, legten hier Weinberge an. Für eine Rebsorte ist die Region dabei mindestens seit der frühen Neuzeit berühmt: Sauvignon Blanc. Die Besonderheit der Weine von Sancerre hängt dabei nicht nur mit der Rebsorte zusammen, sondern auch ganz eng mit dem Terroir. Geologisch ist das Sancerrois der Rand des Pariser Beckens und damit die Uferzone eines Meeres, das sich einst- < Sauvignon Blanc trat von Sancerre an seinen Triumphzug um die Welt an (oben). La Charité-sur-Loire – ein charmantes Städtchen am großen ruhigen Fluss (rechts). aug 2022 falstaff 63